Groß Gerauer Echo vom 10. Januar 2025
Drei historische Linden in Stockstadt aufgespürt
von Marion Menrath

Heimatforscher Jörg Hartung findet Bäume, die an den Deutsch-Französischen Krieg, Reformator Luther und Reichskanzler Bismarck erinnern. Nicht alle sind im Original erhalten.
Stockstadt. Lindenbäume spielten in der Kulturgeschichte eine besondere Rolle. „Viele Orte in Mitteleuropa hatten früher ihre Dorflinde, die das Zentrum des Ortes bildete und Treffpunkt für den Nachrichtenaustausch war“, sagt Jörg Hartung, Heimatforscher und Leiter des Museums Stockstadt. Schon bei den Germanen und den Slawen habe die Linde als heiliger Baum gegolten. Unter dem Baum seien Anfang Mai Tanzfeste gefeiert worden. Außerdem wurde hier meist das Dorfgericht abgehalten, die Linde sei deshalb auch als Gerichtsbaum oder Gerichtslinde bekannt.
Sie wurden oft zu besonderen Anlässen gepflanzt, beispielsweise nach Kriegen als Friedens- oder Kaiserlinden, zu Ehren des Reformators Martin Luther oder des ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck. Drei solcher Bäume, die im 19. Jahrhundert gepflanzt, noch existieren oder später ersetzt wurden, hat Hartung in Stockstadt gefunden. „Die Bezeichnungen und Umstände der Namensgebungen dürften heute wohl keinem Stockstädter mehr geläufig sein“, betont Hartung. Keine der Linden hat es allerdings auf die Liste der Naturdenkmale des Kreises Groß-Gerau geschafft. Hartung vermutet, dass sie nicht alt genug sind, da Linden 1000 Jahre alt werden können.
Friedenslinde an der Weedgasse
„Die meisten unserer erhaltenen Exemplare erinnern an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, aus dem Deutschland als Sieger hervorging“, sagt Hartung. Eine solche Friedenslinde steht auch in Stockstadt, und zwar an der Einmündung der Weedgasse in die Ober- beziehungsweise Vorderstraße, gegenüber der Kirchstraße. Die ursprüngliche Stockstädter Friedens- oder Kaiserlinde sei allerdings nicht erhalten. Sie sei um 1980 durch eine Neupflanzung an gleicher Stelle ersetzt worden.
Vis-à-vis dieser Linde habe sich das alte Stockstädter Rathaus von 1537 befunden, das allerdings bereits 1959 als Verkehrshindernis abgebrochen worden sei. In der Kirchenchronik werde dieser Baum auch als Kaiserlinde bezeichnet, die an Kaiser Wilhelm I. (1797 bis 1888) erinnert, zu dessen Geburtstag am 22. März dort unter „Freigebung der Schulen, Flattern der Fahnen und Festessen bei Wirth Jacoby gefeiert wurde“.
Am sogenannten „Sedantag“, der von 1871 bis 1918 jährlich am 2. September gefeiert wurde und an die siegreiche Schlacht gegen Frankreich im Jahre 1870 bei der Stadt Sedan erinnerte, traf man sich in Stockstadt an der Linde, so Hartung. Die Kirchenchronik berichtete 1879 hierzu über „Böllerschüsse, Fahnen, Festzug der Schuljugend und des Kriegervereins zum freien Platz an der Friedenslinde, wo von der Tribüne herab Pfarrer Kromm, Vereinspräsident Hefermehl und Lehrer Rossmann Reden hielten, die mit Hochs auf das Deutsche Vaterland, Kaiser und Großherzog sowie der deutschen Hymne , Wacht am Rhein’ schlossen“.
Lutherlinde auf Schulhof
1883, zum 400. Geburtstag des Reformators Martin Luther (1483 bis 1546), wurde auch in Stockstadt gefeiert. Am 10. November fand daher unter anderem ein Schülerfest statt, bei dem auf Veranlassung der Kirche nach einer vorherigen Ansprache des Pfarrers, Singen dreier Verse des Liedes 135 und unter Glockengeläut die Lutherlinde auf dem Schulgelände hinter der evangelischen Kirche gepflanzt wurde. In der Kirchenchronik heißt es hierzu „Viele Eltern und Andere nahmen an der ganzen Feier Theil“. Diese Lutherlinde ist heute noch auf dem Gelände der Stockstädter Insel-Kühkopf-Schule neben der evangelischen Kirche zu finden.
Bismarcklinde an der Kirche
Der 70. Geburtstag des Reichskanzlers Fürst Otto von Bismarck (1815 von 1898), am 1. April 1885, wurde gemäß der Stockstädter Kirchenchronik „ganz besonders festlich begangen“. Dies geschah wie folgt: „Die beiden Schulen mit ihren Lehrern, sowie dem Orts- und Schulvorstand – incl. dem Geistlichen, den pensionierten Lehrern und einer Anzahl von Bürgern – zogen vom Schulhofe aus an die kürzlich an dem freien Platze vis-à-vis der Kirche gesetzte Linde und weihten sie zur, Bismarcklinde’“. Lehrer Stork habe die Festrede auf den Fürsten gehalten und mit einem donnernden „Hoch“ geschlossen. Lehrer Hammer brachte ein solches auf den Kaiser und Großherzog aus, die Kinder sangen dazwischen: „Deutschland, Deutschland, über alles“, „Die Wacht am Rhein“, und „Heil dir im Siegerkranz“. Die Gemeinde ließ dann „Wecke“ (Brötchen) unter den Kindern verteilen.
Der damalige Stockstädter Pfarrer Kromm resümiert: „So haben wir nun eine Lutherlinde und eine Bismarcklinde nahe beieinander, sowie eine Kaiserlinde auf dem freien Platze am Rathause!“ Auch die Stockstädter Bismarcklinde steht laut Hartung heute noch auf dem Platz gegenüber der evangelischen Kirche.